Was erwarten wir eigentlich? Was bleibt im Ohr, wenn wir Musik hören.
Wir
nutzen nur 10% unseres Gehirns. Zumindest hört man diesen Spruch
immer wieder. Und so ganz verkehrt ist er eigentlich auch gar nicht, nur fehlt
eben eine wichtige Information: gleichzeitig.
Anders
gesagt: Ich nutze auch immer nur 10% meines Kleiderschrankinhaltes,
da 3 übereinandergezogene Winterjacken den Bewegungsradius der Arme
empfindlich einschränken und mir zudem zu warm sind. Das heißt aber
doch nicht, dass ich die restlichen 90% der Wohlfahrt spenden könnte.
Zumindest nicht, solange ich nicht vorhabe, in Zukunft nur noch auf
Kostümreitveranstaltungen teilzunehmen und mir jedesmal als „Dame
im Abendkleid“ die Oberschenkelinnenseiten wund zu reiten, oder im
Schneeanzug zum Baden zu gehen.
Selbst
die selten genutzten Bereiche meines Kleiderschrankes sind mir
genauso heilig wie die selten genutzten Bereiche meines Gehirns (das
sind die, mit denen man Steuererklärungen korrekt ausfüllen und in
den richtigen Augenblicken die Ruhe bewahren kann). Und die Tatsache,
dass ich beim Tippen dieses Posts gleich im ersten Satz „nuzen“
statt „nutzen“ stehen hatte, beweist noch etwas anderes: Mein
Thalamus befand sich unter den 90% die vorhin ganz einfach gepennt
haben. Er hat die Information „unbekanntes Wort“ vom Sehnerv zwar
gemeldet bekommen, aber nicht in Erwägung gezogen, seinen Hintern
hochzubekommen (jup, auch im Mittelhirn gibt es „Pobacken“, als
andere Bezeichnung für die den Augen zugeordneten oberen Bereiche
der Vierhügelplatte (Colliculi superiores)) und diese Meldung mal an
die Großhirnrinde weiterzuleiten, damit die Korrekturfunktion
einsetzen kann. Penner. Wozu hat man überhaupt ein Gehirn, wenn es
nicht auf einen aufpassen kann.
Der
Depp, ich werde in Zukunft den Namen „Thali“ verwenden, steuert
nämlich, was an Information von den Sinnen gemeldet wird und was
davon an die Chefetage weitergeleitet werden soll. Immer in Relation
zur jeweiligen Gesamtsituation natürlich. Somit wäre die
Information „Hallo, hier spricht der Sehnerv, wir haben gerade ein
hübsches Kleid in der Damenabteilung entdeckt und es könnte auch
noch in unserer Größe vorhanden sein...“ vermutlich eher
unwichtig, im Gegensatz zu „Das Kaufhaus brennt und wir sollten
machen, dass wir hier rauskommen“. Irgendwie ja eine gute
Einrichtung, auch wenn es mir ein bisschen Leid tut, wenn das schicke
Kleid jetzt vermutlich verbrennen muss... das hätten wir schließlich
auch noch retten können, oder? Zumindest das in unserer Größe.
Wir
merken uns also manche Dinge besser als andere, weil manche
Informationen ganz einfach kein Einreisevisum zum Neocortex bekommen.
Würden wir alles verarbeiten, was um uns herum geschieht, würden
wir vermutlich auch die Meise bekommen. Das gilt auch für Musik und
andere Geräusche. Da zieht auch so einiges an uns vorüber, oder
kann sich jemand daran erinnern, wie oft der Löffel heute Früh
gegen den Rand der Kaffeetasse gescheppert hat oder ob und wenn ja,
wann auf dem Weg zur Arbeit ein Motor unangenehm geklappert oder ein
Auto gehupt hat? Sofern das Klappern nicht vom eigenen Motor kam und
einen Besuch in der Werkstatt angekündigt hat, oder das Hupen von
der Klapperkiste hinter uns kam und uns gegolten hat (und dabei hätte
sich der Vollpfosten ja denken können, dass wir abbiegen und vor ihm
einscheren würden, oder nicht? Schließlich befanden wir uns auf der
Hauptstraße, unser Arbeitsplatz lag (grob gerechnet) schräglinks
und wir hatten noch etwa 10 Minuten Zeit, ehe unsere Arbeitszeit
begann. Wieso wusste der Depp das denn nicht?), haben wir diese
unbedeutenden Informationen vermutlich ganz einfach nicht in die
Chefetage weitergeleitet. Was übrigens nicht heißt, dass diese
Ereignisse nicht irgendwo auf Halde liegen und zu gegebener Zeit von
irgendeinem HiWi wieder ausgegraben und zur Verarbeitung gebracht
werden können. Wenn wir denselben Huper noch einmal hören, haben
wir vermutlich eine Art „Déjà-Hup-Erlebnis“, denn schließlich
haben wir das Geräusch ja schon einmal irgendwo gehört. Solche
unspezifisch archivierten Erinnerungen basteln sich nicht selten
selbst ganz neu zu einem vermeintlich erinnerten „Ereignis“
zusammen, das in dieser Form niemals wirklich stattgefunden hat und
so manchen auf die Palme bringen kann, der sich „ganz sicher ist,
den gesuchten Gegenstand neulich noch auf dem Tisch“ gesehen zu
haben, obwohl die erinnerte Tischplatte Ende der 80er entsorgt wurde.
Ein Hoch auf den Thalamus und seinen besten Freund, das False Memory
Syndrome.
Wann,
wie und warum merken wir uns dann aber Musik, wenn wir sie irgendwo
hören?
Zunächst
einmal tun wir das in unglaublich vielen Fällen gar nicht. Zumindest
nicht auf einer Ebene, auf der wir uns dessen bewusst wären. Was
auch immer heute früh im Supermarkt aus den Lautsprechern dröhnte,
als ich eine Packung Kaffee zur Kasse trug: Ich weiß es nicht.
Sicher waren meine Gehörknöchelchen am Wippen und die Härchen in
der Cochlea schunkelten im Takt, aber ich, beziehungsweise mein
Bewusstsein, waren nicht eingeladen. Danke dafür, es hat mir
vermutlich den Müller-Milchreis-Song als Ohrwurm erspart.
In seinem Buch "Der Musik-Instinkt" erklärt Daniel Levitin, der durchschnittliche Laiensänger würde sich eigentlich nur die wichtigsten Töne eines Liedes merken und die Zwischenräume dann anhand seines (mehr oder minder großen) Wissens über den entsprechnenden Musikstil (also seiner Erwartung an den Melodieverlauf entsprechend) ausfüllen. Diese Technik spart nicht nur Speicherplatz in der Denkmasse, sondern erklärt auch die unsicher-vernuschelten Stellen, die tatsächlich zumeist die weniger markanten Töne enthalten. Dieser wunderbare Mr Bean in der Kirche kann eigentlich gar nicht oft genug verlinkt werden. Als Profi kann man sich eine derartige Speicherplatzersparnis allerdings nicht leisten, da muss man leider alle Töne kennen.
In seinem Buch "Der Musik-Instinkt" erklärt Daniel Levitin, der durchschnittliche Laiensänger würde sich eigentlich nur die wichtigsten Töne eines Liedes merken und die Zwischenräume dann anhand seines (mehr oder minder großen) Wissens über den entsprechnenden Musikstil (also seiner Erwartung an den Melodieverlauf entsprechend) ausfüllen. Diese Technik spart nicht nur Speicherplatz in der Denkmasse, sondern erklärt auch die unsicher-vernuschelten Stellen, die tatsächlich zumeist die weniger markanten Töne enthalten. Dieser wunderbare Mr Bean in der Kirche kann eigentlich gar nicht oft genug verlinkt werden. Als Profi kann man sich eine derartige Speicherplatzersparnis allerdings nicht leisten, da muss man leider alle Töne kennen.
Abgesehen
davon erinnern wir uns an Dinge, die für uns einen Sinn ergeben. In
meinem Alter ganz besonders, denn irgendwann hat das Gehirn zwar jede
Menge Kalk und vermutlich auch ausreichend Stroh zur Verfügung, aber
trotz alldem keine Lust mehr, daraus neue Brücken (Synapsen) von
Gehirnzelle zu Gehirnzelle zu bauen. Wir nutzen und festigen daher
lieber diejenigen Verbindungen, die ohnehin schon vorhanden sind. Was
wir kennen, beziehungsweise „erkennen“, das aktivieren und
archivieren wir auch. Und –zumindest den Vertretern der Multiple
Trace Theorie zufolge- werden diese Erinnerungen (die drei Takte, die
ich beim ersten Konzert mit unserem Schulchor so entsetzlich
versemmelt habe / der Melodiefetzen, zudem ich damals auf der
Eislaufdisco auf die Schnudd gefallen bin...) jedes Mal neu
aufgerufen, verbunden und somit immer stabiler gespeichert. Bekannte
Melodieverläufe (und davon gibt es eine ganze Menge, auch wenn es
sich nicht gleich um Plagiate handelt) verarbeiten wir also schneller
und besser als Töne, die für uns in keinem bekannten Zusammenhang
stehen. Wir suchen also nach bekannten Mustern, nach Strukturen und
verwenden dazu Regeln wie das Gesetz des guten Fortschritts (folgt
das Gehörte bisher einem Muster? Dann geht es sicher auch so
weiter), der Nähe (Töne, die nah beieinanderliegen, werden auch als
zusammengehörig verarbeitet (Deutschs „Mysterious Melody“ wäre
ein gutes Beispiel dafür, wie weit auseinanderliegende Töne eine
Melodie so zerreißen können, dass wir unfähig sind, ihr zu
folgen), wir suchen nach in sich geschlossenen Formen (die wir
beispielsweise bei der Zwölftonmusik vergeblich suchen), nach
Dingen, die sich irgendwie als Teil eines Ganzen präsentieren.
Wiederholungen festigen das Gehörte und zeigen uns, dass wir es
richtig erkannt haben, weshalb wir uns auch ein Strophenlied weitaus
besser merken können, als beispielsweise den Erlkönig, und es
vermutlich weniger durchkomponierte Rock- oder Popsongs gibt, als
Nadeln in durchschnittlichen Heuhaufen.
Sind
alle diese Bedingungen erfüllt, wissen wir zumindest eines: Wir
haben diese Art von Musik irgendwo schon einmal gehört und sie hat
uns nicht gebissen, weshalb wir ihr auch diesmal mit Vertrauen
begegnen. Allerdings auch mit einer gewissen Langeweile, denn um sich
wirklich ins Gedächtnis zu graben, müssen Musikstücke auch über
ein gewisses Potential an „Merk-Würdigkeiten“ verfügen. Die
„Würze“, das, was Musik besonders und damit auch wiedererkennbar
macht, besteht also in dem Spiel mit den Stellen, an welchen unsere
Erwartungen daran, wie es weitergehen könnte, nicht (oder erst mit
Verzögerung) erfüllt werden. Alles andere stumpft uns ab. Wir hören
nicht mehr zu.
Anders
ausgedrückt: Ein Kind, das gerade dabei ist, ins Land der Träume zu
wandern, während ihm sein Vater die lezten Sätze eines Märchens
vorliest, die wir vermutlich alle mehr oder weniger im Halbschlaf vor
uns hersagen könnten, ist spätestens an der Stelle wieder wach und
bei der Sache, an der es heißt „und sie lebten glücklich, bis die
Prinzessin ihren Prinzen mit der Küchenhilfe im Heulager
erwischte!“.
Das
Ende von Beethovens Fünfter ist uns vielleicht gerade deshalb im
Gedächtnis geblieben, weil es auf Teufel komm raus nicht eintreten
will. Immer wieder nimmt der Luggi Anlauf und arbeitet auf das Ende
hin, das er uns dann eben immer wieder vorenthält. Spätestens nach
dem vierten Mal erwägt man ernsthaft, dem leicht altersschwachen und
gehbehinderten Nebensitzer seinen Krückstock wegzunehmen und ihn ins
Orchester, beziehungsweise am besten gleich direkt auf den Dirigenten
zu schleudern. Den Krückstock natürlich, nicht den altersschwachen
Nebensitzer. Dann wäre wenigstens Ruhe und meine Erwartungen
beschränkten sich eher darauf, wie gut ich meine Fähigkeiten
einschätze, den guten Herrn von der vierten Parkettreihe aus genau
zwischen die Augen zu treffen.
Auch
ungewöhnliche Besetzungen graben sich ins Gedächtnis ein. Die
Rockband Jethro Tull stellte einen Querflötisten auf die Bühne, was
so ziemlich das einzige ist, das ich von den Herren wusste, als ich
sie mir das erste Mal anhörte. Und wieviele Streichquartette
verlangen bitteschön neben den Musikern nach 4 Helikoptern? Mir
zumindest ist nur eines bekannt und ich glaube ehrlich gesagt auch
nicht, dass das Beispiel Schule machen wird. Dazu gibt es einfach zu
wenige Hobbymusiker, die in ihrem Garten einen Hubschrauberlandeplatz
nebst 4 Maschinen und 4 Piloten im engeren Freundeskreis haben. John
Cages „Waterwalk“ ist da schon einfacher nachzustellen, einen
Wasserkocher, ein Quietscheentchen und eine halbgefüllte Badewanne
werden sich schon irgendwie auftreiben lassen. Und trotzdem gehört
das Stück nicht zum Standardrepertoire eines durchschnittlichen
Musikschülers. Schade eigentlich, immerhin merkt -ob der fehlenden
Erwartungshaltung- auch keiner, wenn man sich verspielt.
Erwartungen
nicht zu erfüllen, macht ein Stück zwar spannend und bemerkenswert,
ist aber bei weitem keine Erfolgsgarantie, denn schließlich soll das
Produkt ja nicht einfach nur jeder kennen, sondern am besten auch
jeder kaufen. Und dazu muss es sich (zumindest für den Massenmarkt,
für den ja aufgrund der Kaufkraft und der damit verbundenen
Einnahmen auch hauptsächlich produziert wird) auch einigermaßen
schön anhören. Oder, wennschon die Schönheit nicht gegeben ist,
wenigstens tanzbar sein, wobei es dann auch ruhig wieder ein ganzes
Stück erwartbarer sein darf, schließlich will man beim Tanzen nicht
aus dem Takt geraten oder über seine eine eigenen Füße stolpern.
Techno mit Einschüben im 9/8-Zakt können wir uns also schonmal
abschminken. Leider. Hätte von weitem sicher ganz witzig
ausgesehen. Bei Sting ist diese Taktart dagegen durchaus zu finden (“I
hung my head”), und selbst die Beatles schafften es, mit einem
ihrer berühmtesten Songs völlig aus dem Rahmen zu fallen:
“Yesterday” enthält beispielsweise nur 7 statt der üblichen 8
Takte einer Phrase, was zeigt, dass es nicht nur ein bestimmtes Maß
an Ungereimtheiten und unerfüllten Erwartungen gibt, sondern auch
eine Art Code dafür, wer sich so etwas leisten darf, und wer nicht.
Schönberg muss nicht nur nicht tanzbar sein, es würde vermutlich
sogar für einiges an Verwirrung sorgen, wenn ein paar schwungvolle
Walzer mit Mitsummfaktor entdeckt würden. Mozart hingegen durfte
alle Genres bedienen und mit seinem Dissonanzenquartett sogar gegen
die Regeln dessen verstoßen, was zu seiner Zeit als schön, richtig
und “typisch Mozart” galt. Allerdings schien er ein Gespür dafür
zu haben, wieweit er über die Stränge schlagen durfte, ohne es sich
mit seinen Hörern zu verderben. Seine Arbeit- und Auftragsgeber zu
verprellen, das ist nämlich eine Sache, die man einem Künstler
durchaus verzeiht. Sein Publikum vor den Kopf zu stoßen ist hingegen
ein Schritt, den man sich gut überlegen sollte, wenn man nicht
ohnehin plant, die Musik an den Nagel zu hängen. Radikale
Imagewechsel gehen selten gut. Erwartbarkeit spielt also auch,
vielleicht sogar gerade da eine Rolle, wo es um den Künstler selbst
zu gehen scheint. Und das, obwohl im Grunde allen klar ist, dass der Mensch sich verändert, auch wir selbst, ein Leben lang.
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Wie zu erwarten war :) konnte ich das programm nicht dazu überreden, einen unserer Songs hier einzubetten, deshalb folgt hier der "normale" Link:
Sommer im Garten, wohl 20 Arten von Rosen, Tulpen und Narzissen...
Das Schweinchen im Vordergrund hat denTierarzt und mich die letzten 3 Wochen lang
in Atem gehalten.
Am Auensee im Auenland :)
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