Ring, Ring... von Tinnitus und Smetana und anderen störenden Nebengeräuschen
Wenn
ich heute zurückdenke, bin ich ja fast der Meinung, als junges
Mädchen kurz vor dem Abitur ein geregeltes Leben ohne allzuviel
Stress geführt zu haben. Aber vermutlich ist das nur die Blödheit
des Alters, das da aus mir spricht. Klar, Mietsorgen hatte ich damals
nicht, auch mein weiteres Leben war einigermaßen überschaubar,
zumindest, was die folgenden Jahre (Abi, Studium, notwendige
Auslandsaufenthalte) betraf, meine Eltern gab es beide noch und
Falten hatte ich auch noch keine aufzuweisen. Trotzdem wachte ich
eines Morgens auf und erlebte den Beginn der großen Gregorianik in
meinem Kopf, die mich noch einige Wochen lang begleiten sollte:
Alles, was an akustischen Geschehnissen um mich herum vorging,
hörte ich mehrstimmig. Gespräche zu führen, war wie ein
terzverschobenes Parallelorganum, eine Art Antiphon (er singt, sie singt), bei dem ich
jedesmal versucht war, ein Alleluja anzuhängen, um dem ganzen einen
würdigen Abschluss zu verleihen. Nach ein paar Tagen wurden aus 2
dann 3 Stimmen und wieder ein paar Tage danach hielt ich meine
Diagnose in der Hand. Hörsturz.
Seitdem
glauben meine Ohren, mich ärgern zu dürfen. Vielleicht, weil ich
damals gemerkt habe, wie wichtig sie mir waren und sie sich nun in
Sicherheit wiegen konnten, dass ich niemals einen Van-Gogh abziehen
und sie hinauswerfen (oder wahlweise, wie der gute Vincent, in Papier
einwickeln und an meine große Liebe schicken) würde. Je nachdem,
wie ich oder sie so drauf sind, piepsen sie mir gerne mal etwas vor,
jammern bei allem, was sich schön anhört „Also weißt Du, Fröken,
das ist vieeel zu laut!“ und finden es offensichtlich lustig, vorzugsweise dann, wenn
man sich auf Geräusche konzentrieren möchte, die große
Charles-Ives-Klangcollage in meinem Kopf anzuwerfen.
Dass
der Tinnitus ein A******och ist, wusste schon Friedrich (wahlweise
Bedrich ) Smetana, der seinen eigenen Tinnitus mit den folgenden
Worten beschrieb: "Die größte Qual bereitet mir das fast
ununterbrochene Getöse im Inneren, das mir im Kopf braust und sich
bisweilen zu einem stürmischen Gerassel steigert. Dieses Dröhnen
durchdringt ein Gekreisch von Stimmen, das mit einem falschen Zischen
beginnt und bis zu einem furchtbaren Gekreisch ansteigt, als ob
Furien und alle bösen Geister auf mich losfahren würden."
Teilweise
können wir beide uns da die Hand reichen, vor allem, wenn ich mich
wieder einmal in einer akuten Stressphase befinde (nun raten wir alle
ein mal ganz schnell, weshalb ich ausgerechnet jetzt mit ausgerechnet
diesem Thema um die Ecke komme? Jup, Volltreffer!), teilweise muss
ich jedoch sagen, dass ich ganz froh bin, dass die Regeln der
Gastfreundschaft innerhalb des Innenohres nicht gelten und Smetanas
Tinnitus nicht mein Tinnitus ist.
Von der Tonhöhe her hört sich mein Ohrgeräusch sich an wie Grillen an einem Sommerabend. Wenn ich
gestresst bin, nenne ich das Ganze auch mal gerne „Walhalla“, weil
dann das große Hallen beginnt (mal rein ausgehend von dem Echo, das
innerhalb meines Kopfes möglich ist, scheine ich da drin also eine
ganze Menge Platz zu haben... da hat wohl wieder mal jemand das ganze
Stroh verbraucht, ohne neues zu bestellen...), was die Zikaden mit ihrem Gezirpe betrifft, haben wir uns einigermaßen arrangiert, das ist auch eine
ganz große Frage der Konzentration, Echo finde ich allerdings nur
in der allegorisierten Form bei Purcell wirklich gut. Musikalisch
wurde das Phänomen selten so wunderbar umgesetzt: Hier und hier.
Den
Tinnitus in einem Musikstück zu verbraten, das schaffte der genannte
Bedrich in seinem Streichquartett Nr. 1 „Aus meinem Leben“ – oder viellleicht doch
eher „Aus meinem Innenohr“, wobei der Tinnitus ja gar nicht dort
entsteht, weshalb es sich als ziemlich sinnlose
Selbstverstümmelungsmaßnahme herausstellte, dass sich Menschen, die
ihren Tinnitus nicht mehr ertragen konten, früher den Hörnerv
operativ durchtrennen ließen. Sie waren danach zwar einerseits taub,
hatten aber andererseits den dämlichen Tinnituston weiterhin im Ohr.
Die ganze Prozedur war also ungefähr so effektiv, wie sich Botox in die Sehnerven
zu spritzen, um einen bestimmten Typen in wiederkehrenden Träumen
nicht mehr sehen zu müssen.
Wie
Tinnitus entsteht, versteht man besser, wenn man sich mit der Idee
der sensorischen Deprivation auseinandergesetzt hat (hier schon
einmal behandelt), in der Kurzform: Wie sind weit mehr auf unser
Gehör angewiesen, als wir glauben mögen. Die meisten Menschen
glauben, mit Taubheit besser umgehen zu können, als mit Blindheit,
was vermutlich damit zusammenhängt, dass sich unsere Kultur nur
deshalb in dieser Form entwickeln konnte, weil wir irgendwann
aufgehört haben, uns auf mündliche Überlieferungen zu verlassen
und unsere Geschichte verschriftlicht haben. So brauchte man nicht
immer alles von neuem zu erzählen oder nach jemandem zu suchen, der
sich mit der ganzen Misere auskannte, vor der man gerade
verzweifelte, sondern konnte sich Notizen machen, eine Bibliothek
besuchen oder mal eben schnell bei Wikihow nachschlagen, wie das mit
dem Eintreten einer Türe oder dem Spielen des Cembalos, das ohne
Verschriftlichung der Musik in Notenform auch eine ganz andere (nicht
unbedingt schlechtere) Spiel- und Improvisationspraxis erleben würde)
nochmal funktioniert hat. Jup, in den letzten Jahrhunderten ist die
Wichtigkeit unseres Sehvermögens grandios angestiegen. Dass das
Gehör allerdings, was das nackte Überleben angeht, eine mindestens
ebenso große, wenn nicht sogar viel größere Rolle spielt, zeigt
schon die Tatsache, dass wir unsere Augen schließen können, unsere
Ohrn aber nicht. Was uns nachts weckt und unter Umständen das Leben
rettet, weil die Bude brennt oder ein Säbelzahntiger zu Besuch
gekommen ist, das ist unser Gehör. Oder hat schon einmal jemand
versucht, einem Schlafenden so lange Photos unter die Nase zu halten,
bis derjenige davon erwachte?
Auch
was die Reichweite betrifft, so sind wir aufgeschmissen, sobald wir
uns nur auf unsere Augen verlassen: Sofern wir nicht gerade wie
Polykrates auf unseres Daches Zinnen stehen und auf das beherrschte
Samos hin schauen, oder irgendwo im Mastkorb auf dem Ozean vor uns
hinschaukeln, ist unser Sichtfeld vermutlich nicht besonders groß.
Ich sitze hier gerade auf meinem Bett und starre die
Gegenüberliegende Wand an. Nach 3 Metern ist also Schluss mit dem
Sehen, was sich dahinter befindet, kann ich nicht sehen, wohl aber
hören, was wieder einmal zeigt, wie unterschiedlich der Terminus
„Zimmerlautstärke“ ausgelegt werden kann. Jedenfalls hören wir
hinter Wände und Bäume, über weite Strecken hinweg, wir hören,
was hinter uns ist, was sich gerade von ferne nähert, was direkt
neben uns wummert und was sich von uns entfernt. Wir höre die
Autobahn, die 7 km von unserem Schlafzimmer entfernt ist und die
Katze, die sich schnurrend unter dem Bett versteckt.
Und wenn wir
nichts hören, weil uns jemand den Ton abgedreht , uns in eine
schalldichte Kammer gesperrt, oder unsere Hörzellen überstrapaziert
hat, dann denken sich unsere Zellen eben einfach Geräusche aus.
Ihnen ist also schlichtweg langweilig und sie wollen wieder
mitspielen dürfen. Sind nun nur bestimmte Zellen geschädigt, dann
mauscheln die sich so durch, indem sie entweder bei heilgebliebenen
Zellen in der Umgebung anklopfen und nachfragen, was denn gerade so
läuft (Antwort heile Zelle: „456 Hz und bei Dir so?“
Geschädigte Zelle: „Oooch nix... naja, ich geh dann mal
wieder...hey, Gehirn, ich hab ne Info für Dich: Hier wurden eben 456
Hz gemeldet. Bin ich jetzt Dein Star? Immerhin hab ich das zuerst
gemeldet!“). Als Folge sind dann entweder diese Frequenzen im
Gehirn überrepräsentiert und werden dann auch entsprechend laut
weitergegeben ( → das berühmte Pfeifen im Ohr), oder die Zellen
lügen ganz einfach was das Zeug hält und geben ihre bisherigen
Informationen (jede Hörzelle ist immer nur für einen bestimmten
Frequenzbereich zuständig, die kleinen Eumel sind leider nicht
multitaskingfähig) so weiter, als würden sie sie immer noch hören,
wobei sie ganz einfach raten müssen, ob das Gepiepse nun tatsächlich
präsent ist. Und unsere armen grauen Zellen wissen zwar ganz genau,
dass irgend etwas im Busch ist, müssen aber trotzdem versuchen, den
Laden irgendwie am laufen zu halten und erzählen dem armen Hörer
daher einen vom Pferd. Oder von der Rassel. Und bei der Märchenstunde sind sogar Gehirnareale beteiligt, die zunächst einmal gar nichts mit dem Hörphänomen zu tun haben, aber unbedingt auch mitspielen wollen, weshalb das Ganze so effektiv zu sein scheint. "Viele Hände, schnelles Ende" sagt man ja nicht umsonst. Im Tinnitusfall wäre das dann wohl "Viele Zellen, lautes Bellen!" ... die Zusammenarbeit beim chronischem Phantomhören funktioniert in diesem Fall ungefähr genauso, wie die Verarbeitung von chronischen Phantomschmerzen. Ausgehend davon, wie viele Zellen da plötzlich kommunizieren und sich einen Spaß daraus machen, Unwahrheiten zu verbreiten, plädiere ich dafür, den Tinnitus ab sofort in "Akustisches Mobbing" umzubenennen und im Gehirn strafrechtlich zu verfolgen.
Dann hätte er wenigstens Schadensersatz bekommen, der gute Smetana, mit seinem von einem Gekreisch von Stimmen durchdrungenen Dröhnen. Schön klingt vermutlich anders, aber, je länger ich mir das Streichquartett anhöre, desto eher wäre ich bereit, vielleicht doch mit Smetana zu tauschen. Denn insgesamt klingt es doch wieder ziemlich schön. Man muss so einen Tinnitus also nur in den passen tonalen Kontext setzen, dann ist sogar ein Pfeifen im Ohr Kunst. Ziemlich tolle sogar.
Dann hätte er wenigstens Schadensersatz bekommen, der gute Smetana, mit seinem von einem Gekreisch von Stimmen durchdrungenen Dröhnen. Schön klingt vermutlich anders, aber, je länger ich mir das Streichquartett anhöre, desto eher wäre ich bereit, vielleicht doch mit Smetana zu tauschen. Denn insgesamt klingt es doch wieder ziemlich schön. Man muss so einen Tinnitus also nur in den passen tonalen Kontext setzen, dann ist sogar ein Pfeifen im Ohr Kunst. Ziemlich tolle sogar.
Es ist nichts wirklich kuschelig oder bequem,
solange der Bauch nicht angewärmt wird.
Watt will'se, Zweibein? Bleib so liegen, ich rühr mich jetzt nicht!
Das Medikamentenarsenal gehörte einem Meerschweinchen, das den Kampf leider verloren hat. Es ist auch nicht immer alles schön im Finemangtal.
Dafür darf man sich dann ab und zu auch wieder aufbrezeln und in die Oper fahren.
solange der Bauch nicht angewärmt wird.
Watt will'se, Zweibein? Bleib so liegen, ich rühr mich jetzt nicht!
Dafür darf man sich dann ab und zu auch wieder aufbrezeln und in die Oper fahren.
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