Der Soundtrack meines Lebens
Vor
einigen Jahren unterhielt ich mich mit meinem Vater über den
Einfluss, den Bücher, Theaterstücke, Opernstoffe, die Leben anderer
Leute eben auf unser eigenes Leben haben. Wir kamen überein, dass
“Was vom Tage übrig blieb” ein wunderbares Buch ist, um das Haus
zu putzen und nebenbei sein Leben zu sortieren, während “Siddharta”
eine unübertroffene Einstimmung zum Aussortieren ist. Man kann
plötzlich so viel einfacher leben und betrachtet eine Menge Dinge um
sich herum als nutzlosen Ballast. Mein Vater meinte damals sogar, er
verlöre mindestens zwei Kilo Körperfett in den folgenden zwei
Wochen.
Gibt
es also für alle Lebenslagen die passende Geschichte mit den
richtigen Helden, die uns inspirieren können? Brauchen wir nur
danach zu suchen, um Unterstützung bei unseren Problemen zu
bekommen? Können wir irgendwann unsere Freunde mit unserem Gejammer
verschonen, und, wenn sie uns fragen, wie es denn gerade so aussieht
mit dem Herrn Sagichnicht, ganz locker antworten “Danke für Dein
Interesse, aber wir brauchen nicht darüber zu reden, ich schaue mir
gerade zum fünfzehnten Mal “Das Schweigen der Lämmer” an?
Was
nehme ich, wenn mir die Inspiration zum Bloggen fehlt? Sex and the
City? Die Protagonistin schreibt schließlich in jeder Folge fleißig
an ihrer Kolumne...allerdings schleppen sie und ihre Freundinnen pro
Folge auch mindestens zwei Männer mit nach hause,und das entspricht
nicht so ganz der frökenianischen Lebensphilosophie. Oder ist der
Herr Sagichnicht so etwas wie mein Mister Big? Nur eben ohne Happy
Ending? Man weiß es nicht.
Aber
bleiben wir dieser Idee einen Augenblick treu und sehen wir
uns musikalisch ein bisschen um... vielleicht brauchen wir ja
wirklich die eine Heldin, die eine Oper, die eine große Arie unseres
Lebens... eben etwas, mit dem wir uns identifizieren können, nur
eben mit etwas mehr Glamour, etwas mehr rotem Samt, einer schöneren
Bühnendekoration und einem Hornsolo?
Erinnern
wir uns einmal einen kurzen Moment lang an unsere Jugend... wer kennt
die “Mixed Tapes”, die Kassetten, die wir aufnahmen und unseren
Angebeteten in der Schule zusteckten, in der Hoffnung, dass sie sich
ein bisschen freuten und über die ausgewählten Musikstücke (bei
mir meist eine wirre Mischung aus Arcadia (kennt die überhaupt noch
ein Mensch?), Tori Amos (immer noch ganz vorne bei mir), Sting
(ditto), Duran Duran (wild boys!!) und der Arie der Königin der
Nacht) eine Art innere Brücke zu uns aufbauen konnten (oder auch nur
wollten) ? Haben wir nicht vielleicht alle ein Mixed Tape unseres
Lebens? Zehn oder zwanzig Songs oder andere Musikstücke, die uns
beschreiben, die zeigen, wie wir wirklich sind und die wir in
Krisensituationen in der Endlosschleife hören können, bis wir keine
Tränen mehr haben? Oder ist das mal wieder so ein Frauending? Hört
noch jemand abends Dowland, kippt sich Tee hinter die Kiemen und
schließt Frieden mit der Welt? Oder meinen liebsten Jammerchoral
“Es ist genug”, wenn alles so furchtbar ist, dass man einfach mal
ein Statement setzen möchte und sich von der unglaublichen Ruhe
dieses Chorals wieder auf den Teppich bringen lässt?
Es ist
vermutlich ein bisschen wie es uns die Bibel im Buch der Prediger
lehrt: Ein jegliches hat seine Zeit (pred. 3,1). Ein jegliches hat
vermutlich auch seine ganz eigene Musik, seine Arie, seine Sonate
oder seinen Song. Ist das dann also die Musik unseres Lebens? Ist
jeder von uns ein Song? Nun, vermutlich nicht jeder von uns, denn
obwohl die meisten Menschen Musik in irgendeiner Form mögen und mit
Empfindungen verbinden, gibt es tatsächlich auch Mitmenschen, deren
Gehirn in dieser Hinsicht anders arbeitet. Musik wird zwar gehört,
gespeichert und wiedererkannt, und auch das Gefühlszentrum
funktioniert in der Hinsicht einwandfrei, als sie der Lage sind,
Gefühle zu empfinden, jedoch scheinen die beiden Hirnareale nicht
miteinander verknüpft zu sein. Für einen Menschen mit diesem
Phänomen (Anhedonie genannt) besteht also keinerlei Verbindung
zwischen einem nach „herkömmlicher“ Ansicht „traurigen“
Musikstück und dem entsprechenden Gefühl.
Die
gesamte Affektenlehre hat sich so ein Barockkomponist eingehämmert,
monatelang, und alles ist für die Katz, wenn der Hörer Anhedoniker
ist. Allem Anschein nach scheint das Gehörte keinerlei Einfluss auf
das Belohnungszentrum in seinem Gehirn zu haben und der Hörer ist
somit unfähig, das Gehörte zu genießen. Für eine Songheulerin
wie mich eine seltsame Vorstellung, aber es soll ja auch Leute geben,
die überhaupt keine Gefühle anderer Menschen nachvollziehen können.
Dann schon lieber mit unbewegtem Gesicht im Konzert sitzen. Auf diese
Weise hat man wenigstens immer jemanden neben sich, den man guten
Gewissens losschicken kann, um noch ein paar Getränke zu besorgen.
Ihm ist es dann ja ohnehin egal, wenn er etwas verpasst.
Was die
Frage nach der Musik meines eigenen Lebens betrifft: Wenn wir Gefühle
und Musik miteinander verbinden, müsste man für jedes Gefühl ein
Musikstück finden können, das unser persönliches Empfinden von
Freude, Trauer und so weiter am ehesten ausdrücken kann. Und da wir
nicht nur alle unterschiedliche Erfahrungen im Leben machen, die uns
auf unterschiedliche Weise prägen, sondern ebenso unterschiedliche
Musik hören, müsste eine entsprechende Liste mehr über uns, unser
soziales Umfeld, die Musik unserer Kindheit, unsere Freundes- und
Bekanntenkreise aussagen, als man auf den ersten Blick vermuten
würde.
Also....
wird sich das Fröken soweit öffnen? Will ich das? Mache ich mich
zum gläsernen Menschen, wenn ich verrate, dass ich in der Badewanne
den Fliegenden Holländer höre?
Vermutlich
ja. Vermutlich könnte jeder Hobbypsychologe seinem Zeitvertreib
frönen, aber da ich ohnehin eine hoffnungslose Loserin bin, was das
strategische Verbergen von Gefühlen angeht und der Herr Sagichnicht
dies hier niemals lesen wird (das implizierte ja ein gewisses
Interesse an meiner Person), kann ich auch gleich in die Vollen gehen
und musikalischen Seelenstriptease betreiben.
Hier
nun also eine Liste basaler Gefühle/Gegebenheiten und die
Musikstücke, die mir spontan dazu einfallen. Interessanterweise sind
einige meiner liebsten Komponisten oder Stücke dabei nicht
vertreten. Da scheint also tatsächlich eine Portion Psychologie mit
drinzustecken:
- Freude: Ist es bezeichnend, wenn mir ausgerechnet hier spontan nichts einfallen mag? Ich freue mich oft. Ganz sicher!
- Kummer: Alban Berg: Violinkonzert
- Trauer: Johannes Brahms: Ein Deutsches Requiem (wurde auf der Beerdigung meines Vaters gespielt)
- Nostalgie: Mozart: Eine kleine Nachtmusik (meine erste Kassette als Kind); Leonard Cohen: Suzanne (zuhause viel gehört); Kim Wilde: Child, come away (erste selbstgekaufte Single... ich bin wohl offiziell ALT)
- Verzweiflung / Keine Lust mehr: Joni Mitchell: River
- Ruhe, Friede, Tasse Tee am Abend: Philipp Glass: A Night on the Balcony (aus “The Screens”); Carl Michael Bellman: Fredmans sâng No. 5 Sa slâr min Glock nu locket till (ja, ich weiß, der Glock ist tot, aber immerhin trinken sie darauf und das Lied ist wunderschön und nein, ich weiß nicht, wie ich das blöde runde Ding auf das a bekomme bei meiner Tastatur....), Sting: Ghost Song
- Ein Song über einen ganz bestimmten Menschen: Tori Amos: China
- Was ich immer schon spielen können wollte: Camille Saint Saens: Danse Macabre in der Bearbeitung für 2 Celli
- Was ich immer wieder anhören / ansehen könnte: Bach/Bellman/Dowland; Glass/Foday Musa Suso: The Screens; Brecht/Weill: Mahagonny
- Was ich nie wieder ansehen / anhören will: B.A.Zimmermann: Die Soldaten (das Trauma sitzt tief); Leoš Janáček: Aus einem Totenhaus (dito)
- Ich liebe den Text, ich hasse die Musik: Joni Mitchell: Both sides now
- Ich hasse den Text, ich liebe die Musik: Edvard Grieg: Solvejgs Lied (aus Peer Gynt) (Vom Frauenstandpunkt her sollte man der lieben Solvejg mal ein paar Takte erzählen. Warten ist ja schön und gut, aber die Frau braucht eine Therapie)
- Was mich zum Lachen bringt: Mauricio Kagel
- Was mich zum Weinen bringt: Luigi Nono: Il canto sospeso
- Nein, ich bin nicht dick. Ich liege nur unvorteilhaft und die Zweibeinerin kann nicht fotografieren!
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