Was ist Musik? Der Tragödie zweiter Teil
Willkommen zu Teil Zwei der offensichtliche vergeblichen Suche danach, was Musik eigentlich ist. Oder besser vielleicht: Der Frage danach, was Musik für uns ausmacht, denn es scheint offensichtlich nicht möglich zu sein, eine vernünftige Antwort nach der Natur der Musik zu bekommen. All die Dinge, die uns zu dem Thema so einfallen, wie beispielsweise Melodie und Rhythmus, Mehrstimmigkeit, formale Regeln, Sonatensatz-, Rondo-, oder weitere Formen, Themen, Motive, Imitationen...nichts davon scheint notwendig zu sein, wenn es um das Schreiben von Musik geht.
Vielleicht
werden ja deshalb die bekanntesten Stücke immer wieder gespielt,
weil wir Dinge brauchen, an denen wir uns halten können. Bekanntes
gibt irgendwie immer ein gewisses Gefühl der Sicherheit: Das hat uns
beim letzten Mal nicht gebissen, also wird es das vermutlich auch
diesmal nicht tun. Gehen wir also in die Zauberflöte, statt in Unsuk
Chins Alice
im Wunderland.
Und dabei gäbe es
so viele wunderbare Stücke, die mittlerweile teilweise auch schon
ihre 50-70 Jahre auf dem Buckel haben und dennoch viel zu häufig
unter der Bezeichnung „neumodischer Kram“ abgetan und außer
Hörweite verbannt werden. Und das von denselben Menschen, die einen
Popsong nach 2 Wochen von ihrer Playlist löschen, weil er ihnen
nicht mehr aktuell genug ist. Wobei man sich bei den meisten Popsongs
darauf verlassen kann, dass sie wiedererkennbare Melodien und
eingängige Rhythmen besitzen und somit also im Grunde alles andere
als neumodisch sind. Da wird im Gegenteil, auf eine Liedform
zugegriffen, die man auf jedem Mittelaltermarkt hören kann. Hätte
sich der Erfinder des Strophenliedes rechtzeitig ein Patent auf diese
Form in die Höhlenwand meißeln lassen, wäre er vermutlich
Mammutmillionär gewesen und seine Familie bis heute finanziell
abgesichert.
Und woher kommt nun
diese Ablehnung, die ausgerechnet in jungen Menschen so verankert
scheint? Liegt es einfach nur an der fehlenden Beschäftigung mit der
sogenannten „Neuen Musik“? Braucht es 20 Jahre Gewöhnungszeit?
Und wenn ja: Weshalb?
Möglicherweise
liegt es ja tatsächlich daran, dass wir bereit sind, vieles zu
akzeptieren, das sich innerhalb der Grenzen bewegt, die wir im
Kindesalter vermittelt bekommen haben, in einer Zeit also, in der wir
noch klare Definitionen vorgesetzt bekamen und (hoffentlich) ebenso
klare Grenzen, die wir nicht zu überschreiten wagten. Selbst denken
war noch nicht gefragt, wer sich absonderte, wurde von den Kameraden
ausgegrenzt oder vom Kindergartenmob verprügelt. Dieselbe Situation
also, die gewisse Politiker heute noch fordern, welche übrigens
stark in eine politische Richtung tendieren, die in der ersten Hälfte
des 20. Jahrhunderts bereits Komponisten wie Arnold Schoenberg
(Damals noch mit „ö“) dazu gebracht hat, ihre Koffer zu packen
und das Reich zu verlassen. Fehlt uns da einfach ein Stück
Musikgeschichte?
Was diese Musik so
ungewohnt, vielleicht sogar verstörend, macht, ist das Erweitern
oder gar negieren der Parameter, die wir in der Feld-Wald-und
Wiesenmusik des alltäglichen Radiogedudels immer wieder vorgesetzt
bekommen: Melodien, Rhythmus, Takt. Ein Wiedererkennungsfaktor durch
Themen und Motive die das gesamte Stück durchziehen. Ob ein Popsong
eine Überlebenschance hätte, wenn er auf das Strophenformschema
verzichten und statt dessen durchkomponiert würde, ist fraglich und
wäre den Versuch aus finanzieller Sicht vermutlich nicht wert. So
etwas kann man sich vermutlich nur trauen, wenn man Freddie Mercury
heißt und mal eben eine Bohemian Rhapsody aus dem Ärmel schüttelt.
Was in der Romantik
mit dem Aufbrechen der Tonalität begann, erweiterte sich im Laufe
des 20. Jahrhunderts auf die übrigen Eckpunkte. Die bis dahin
geltenden Regeln der Tonalität waren spätestens mit Schönberg in
ihre Bestandteile zerkloppt worden, danach konnte man, was Kon- und
Dissonanzen betraf, so ziemlich machen, was man wollte, aber wo sich
eine Grenze öffnet, da erkennt man dahinter ja bekanntlich eine
neue. Und so weiter. Und das, was diese Grenzen sprengt, fordert den
Hörer tatsächlich, genauso wie den Veranstalter, der diesen
Forderungen nach Freiheit erst einmal gerecht werden muss. Das können
ganz einfach Platzprobleme sein, wie bei Stockhausens Oper „Licht“,
die mal eben 2 Säle und einen Raum für einen Mischer benötigt,
oder gar das Helikopter-Quartett, in dem sich die Musiker in, ihr
habt's erraten, Helikoptern befinden (wobei man den mal eben
angemieteten Flugplatz auch gleich für eine Aufführung von „Gruppen
für 3 Orchester“ nutzen könnte, denn auch das lässt sich
eigentlich nur in einem Hangar verwirklichen), Ligeti setzte neue
Maßstäbe in Puncto Rhythmus (bzw. er ließ ihn in seinen
„Atmospheres“ einfach weg oder gab ihm in seinem Poème
Symphonique eine Solorolle und stellte 100 Metronome spezifisch ein,
löste die Verbindungen und schon ging das Geklacker los. Musik ohne
Klang also, nur Geräusch und doch trotz allem Musik, denn es steckt
eine musikalische Absicht dahinter, das Ganze ist alles andere als
ein Zufallsprodukt. John Cage beschloss dann eines Tages einen
Radikalschlag und ließ ganz einfach alles weg, was wir gemeinhin als
musikalische Bausteine aufzählen würden. Sein 4' 33'' enthält
keinen einzigen Ton. Alles, was geblieben ist, ist die Auführungszeit
von 4 Minuten und 33 Sekunden. Und eine sehr klassische Einteilung in
3 Sätze. Dafür lässt er dem Musiker in Puncto Instrumentenwahl
völlig freie Hand. Ist ja irgendwie tatsächlich egal, aus welchem
Instrument nun kein Ton kommt. Ein Klavier, das nicht spielt, klingt
überraschenderweise genauso wie eine Trompete, die nicht spielt.
Irgendwie faszinierend, dass alle Pausen gleich klingen können,
egal, wer die Pause macht... ich frage mich, wie lange man über
derartige Phänomene nachdenken kann, ehe einem der Kopf platzt.
Zwei Aufführungen
dieses wunderbaren Stückes (ja, ich liebe es, auch wenn ihr euch
jetzt leise tonlos 4 Minuten und 33 Sekunden lang an die Stirn tippt)
durfte ich erleben, eine war ganz unglaublich laut (hö? Wie jetzt?),
da das Publikum nach den ersten 2 Minuten ein Wahnsinnsgezeter
veranstaltete, tuschelte, im Programmheft blätterte, sich das Stück
von den Leuten in der Reihe hinter sich erklären ließ..., die
andere war ganz einfach doof, da der Solist (oder in dem Fall besser
der Nihilist :D Er macht ja praktisch null) meinte, unbedingt
beweisen zu müssen, dass er tatsächlich spielen kann, und eines
dieser Großmutterheulstücke wie die Ballade pour Adeline
hinterherwarf, wohl aus Angst, er könne hinterher mit Kommentaren
wie „Hey, sind Sie Beamter? Die werden ja auch für's Nichtstun
bezahlt!?“ überhäuft werden. Traurig und schade um das tolle
Stück.
Ganz aus dem Ruder
scheint übrigens Cages Atlas Eclipticalis zu laufen: Die Töne
selbst entstammen der Sternenkarte Australiens und wurden auf
Notenlinien durchgepaust, wobei die Tonhöhen hier relativ zu sehen
sind und der Einschätzung des jeweils ausführenden Musikers (und
derer gibt es viele, es handelt sich um ein Orchesterstück)
unterliegen. Die Länge der Töne ist ebenfalls grob selbst
abzuschätzen (wie man es schafft, grob zur selben Zeit aufzuhören,
ohne zwischenzeitlich einen Kaffee trinken zu gehen, bis auch der
dritte Bratschist am Ende angelangt ist, ist mir ein Rätsel) und die
Lautstärke gibt eine ungefähre Vorstellung von der Helligkeit der
Sterne. Ich vermute mal: Hätte der gute Mann das ganze mit dem
Tageshimmel statt des Nachthimmels gemacht, wären wir wohl
spätestens bei der Sonne allesamt taub gewesen!
Das Stück selbst
hat eine Entstehungs- und Bearbeitungsgeschichte, bei der man sich
erstmal nen Kaffee holen sollte und die eigentlich ihren eigenen
Artikel verdient. Alles in Allem lässt sich wahrscheinlich ohnehin
nie wirklich sagen, was Musik denn nun so wirklich ausmacht, aber das
wussten wir ja bereits. Einen guten Teil scheint ja auch die Zeit
dazuzugeben, die einem zunächst als unzumutbar angesehenes Stück
seinen Platz in der Musikgeschichte gibt. Cages 4'33'', das
mittlerweile eines der bekantesten Cage-Stücke ist, wäre so ein
Fall, aber auch die Uraufführung von Strawinskis Sacre du Printemps
oder Stockhausens Fresco, das frühzeitig abgebrochen werden musste,
weil einige Musiker Schilder mit Aufschriften wie „Tut uns Leid,
aber wir müssen das so spielen“ hochhielten, die Lichter an den
Notenpulten ausknipsten oder ganz einfach irgendwann ihre Instrumente
einpackten und ungefragt nach hause gingen. Schade um die ganze
Arbeit und insgesamt eine ziemlich schief gelaufene Aktion, denn das
Stück gewann dadurch nicht unerheblich an Popularität. Ich
schätze, anzuecken kann auch ein guter Weg in eine musikalische
Zukunft sein!
Gibt es denn hier gar keine Kommentare?
AntwortenLöschenDas finde ich schade, denn die Artikel sind ausnahmslos (ich hab so an die zwölf gelesen - Fazit: gerne mehr!) ausgesprochen locker und trotzdem (!) interessant, und würden mehr Interesse/Anteilnahme des "Publikums" verdienen.
Private deutschsprachige Blogs über ernsthafte* Musik gibt es grob gesagt überhaupt keine (ich kenne 4 oder 5), die Newsfeeds von Musikverlagen, Rundfunkstationen, etc. interessieren als reine PR Aktionen nur marginal. (Wenn ich Neuerscheinungen von CDs suche, suche ich bei jpc.de).
Also weiter so! Ich werde dich im Auge behalten.
*ich wollte zuerst "klassisch" schreiben, aber das ist inhaltlich zu eng.
Find ich auch sehr gut geschrieben (WMS.Nemo)
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